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EU Aktuell

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Draghi-Bericht: Finanzierung notwendiger Investitionen als finanzpolitischer Schwerpunkt

Kapitalmarktunion, EU-Haushalt und gemeinsame Schuldtitel im Fokus

 

Am 09.09.2024 hat der frühere italienische Regierungschef und ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi seinen von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen und eigentlich ursprünglich bereits vor der Sommerpause erwarteten Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU vorgelegt.

Der ca. 400 Seiten umfassende Bericht gliedert sich in zwei Teile (Teil A: „A competitiveness strategy for Europe“; Teil B: „In depth analysis and recommendations“) und enthält 170 Vorschläge aus verschiedenen Politikbereichen. Sie sollen sicherstellen, dass die EU auch in Zukunft u.a. gegenüber den USA und China wettbewerbsfähig bleibt. In finanzpolitischer Hinsicht ist – wenig überraschend – die Finanzierung wichtiger Zukunftsaufgaben ein Kernthema, mit dem sich der vorliegende Beitrag befasst. Für die übrigen Themenbereiche wird auf den gesonderten Beitrag unter der Rubrik „Wirtschaft“ verwiesen.

 

I. Finanzierung von Investitionen

Der benannte Investitionsbedarf, um die in dem Bericht dargelegten Ziele und damit auch die Wiederherstellung/Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der EU zu erreichen, ist enorm. Der Bericht bezieht sich auf Schätzungen der Kommission, die von einem zusätzlichen Investitionsbedarf von 750 bis 800 Mrd. Euro pro Jahr ausgehen, was bis zu 4,7% des BIP der EU 27 im Jahre 2023 entspricht. 

In dem Zusammenhang verweist der Bericht auf die anhaltende Kluft bei den privaten produktiven Investitionen zwischen der EU und zum Wettbewerber USA. Auch staatliche Investitionen in der EU seien im Vergleich zu den USA im Verhältnis zum BIP anhaltend niedriger. In dem Zusammenhang bemängelt Draghi, dass sich die gemeinsame europäische Finanzkraft auf verschiedene Staaten und EU-Instrumente verteile und so verwässere. Das betreffe insbesondere die Verteidigungsindustrie und die Förderung von neuen Technologien. Hier seien mehr Ausgaben auf EU-Ebene notwendig. 

Um den Investitionsbedarf zu decken sei u.a. eine Förderung privater Investitionen essentiell, für die es u.a. auf eine Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion ankommen werde (vgl. 1.). Des Weiteren betont der Bericht die Bedeutung und Notwendigkeit einer Reform des EU-Haushalts zur Unterstützung privater und öffentlicher Investitionen (vgl. 2.). Schließlich setzt sich Mario Draghi für die regelmäßige Emission gemeinsamer (EU-)Schuldtitel ein, die zur Finanzierung gemeinsamer Investitionsprojekte verwendet werden sollen (vgl. 3.). 

1. Private Investitionen

Eine erhebliche Rolle, den Investitionsbedarf zu decken und auch den Rückstand zu den USA aufzuholen, wird dem privaten Sektor zukommen.

a. Senkung der Kapitalkosten

Für eine Hebung der notwendigen privaten Investitionen sei u.a. – so der Bericht – eine Senkung der privaten Kapitalkosten nötig. Um dies zu erreichen, sei einmal eine verbesserte Effizienz der (EU) Kapitalmärkte (z.B. durch die Vollendung der Kapitalmarktunion) nötig. Zusätzlich seien aber auch steuerliche Anreize zur Freisetzung privater Investitionen notwendig. 


b. Kapitalmarktunion

Ein Hauptgrund für den Mangel an privaten Investitionen in der EU ist laut Bericht – wenig überraschend – die nach wie vor starke Fragmentierung der EU-Kapitalmärkte. Diese verhindere u.a., dass Ersparnisse in die Kapitalmärkte flössen und führe dazu, dass zu viele europäische Start-ups sich ihre Finanzierung durch amerikanische „venture capitalists“ suchten oder ihren Sitz in die USA verlegten. Trotz zahlreicher Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion auf EU-Ebene bestünden weiterhin drei erhebliche Mängel:

  1. Aufsicht: Es fehle nach wie vor eine einheitliche Aufsichtsbehörde für die Wertpapiermärkte und ein einheitliches Regelwerk für alle Aspekte des Handels. Außerdem seien Aufsichtspraktiken und die Auslegung der Vorschriften immer noch sehr unterschiedlich. 

Draghi schlägt hier u.a. vor, dass die Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA) gewissermaßen als zentrale Säule der Kapitalmarktunion zur einzigen gemeinsamen Regulierungsbehörde für alle EU-Wertpapiermärkte weiterentwickelt werden solle, vergleichbar mit der US-amerikanischen „Securities and Exchange Commission“.

  1. Clearing: Das nachbörsliche Umfeld für Clearing und Abrechnung in Europa sei weit weniger einheitlich als in den USA.

Perspektivisch sollte die EU in diesem Zusammenhang darauf abzielen – so Draghi – eine einzige zentrale Gegenpartei-Plattform und einen einzigen Zentralverwahrer für alle Wertpapiergeschäfte zu schaffen.

  1. Steuern/Insolvenzrecht: Steuer- und Insolvenzregelungen in den Mitgliedstaaten seien trotz der jüngsten Fortschritte bei der Quellensteuer („Faster“) nach wie vor weitgehend uneinheitlich. 

Die Harmonisierung der Insolvenzregelungen sei essentiell, um der durch unterschiedliche Gläubigerhierarchien verursachte Fragmentierung zu begegnen. Steuerliche Hindernisse müssten insbesondere im Hinblick auf grenzüberschreitende Investitionen beseitigt werden.

Darüber hinaus seien die EU-Kapitalmärkte im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften mit langfristigem Kapital unterversorgt, was vor allem auf die unzureichende Entwicklung bei Pensionsfonds zurückzuführen sei. Langfristige Sparprodukte in diesem Bereich könnten dazu beitragen, Ersparnisse der Haushalte in produktive Investitionen zu lenken. 

c. Bankenfinanzierungen 

Insgesamt verlasse sich die EU laut Draghi zu sehr auf die Finanzierung von Investitionen durch den Bankensektor, der für die Finanzierung innovativer Projekte weniger gut geeignet sei und zahlreichen Einschränkungen z.B. in Form von regulatorischen Hürden bei der Kreditvergabe unterliege. Ein Problem sei außerdem, dass sich EU-Banken nicht in demselben Maße auf Verbriefungen stützen könnten wie US-Banken. Um die Finanzierungskapazität des Bankensektors zu erhöhen, sollte die EU daher darauf abzielen, Verbriefungen z.B. durch Absenkung der Eigenkapitalanforderungen für bestimmte verbriefte Vermögenswerte wiederzubeleben. 

Des Weiteren empfiehlt Draghi die Vollendung der Bankenunion. Ein minimaler Schritt hierzu sei die Schaffung einer separaten Gerichtsbarkeit für europäische Banken mit umfangreichen grenzüberschreitenden Geschäften


2. EU-Haushalt

Der Bericht äußert sich auch zu einer möglichen Reform des EU-Haushalts. Die Rolle des EU-Haushalts zur Unterstützung privater und öffentlicher Investitionen werde gegenwärtig durch seinen geringen Umfang, seine mangelnde Zielgerichtetheit und einer zu konservativen Haltung gegenüber Risiken eingeschränkt. 

Draghi fordert hier eine Reform, die dazu beiträgt, den EU-Haushalt gezielter und effizienter einsetzen und eine bessere Hebelwirkung zur Förderung privater Investitionen erzielen zu können. Die verfügbaren Mittel sollten auf gemeinsam vereinbarte strategische Projekte und Ziele ausgerichtet werden, bei denen die EU den größten Mehrwert erbringe. Der Bericht empfiehlt in dem Zusammenhang, im nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen eine "Säule der Wettbewerbsfähigkeit" einzurichten, um EU-Mittel auf vorrangige Projekte zu lenken, die im Rahmen eines so genannten und neu zu schaffenden Koordinierungsrahmens für Wettbewerbsfähigkeit festgelegt wurden. Darüber hinaus sollte die Haushaltsstruktur vereinfacht werden, um eine ausreichende Größenordnung zur Unterstützung strategischer Projekte zu erreichen und den Zugang zu den Begünstigten zu vereinfachen. Draghi schlägt vor, alle Förderprogramme neu zu gruppieren und ihre Anzahl (von bislang über 50) erheblich zu verringern. Spezielle Finanzierungsprogramme sollten eingerichtet werden, um z.B. die Investitionslücke für Scale-up-Technologieunternehmen in der EU zu schließen. 

Des Weiteren sollte die Flexibilität des EU-Haushalts verbessert werden, um die Umverteilung von Ressourcen zwischen und innerhalb von Programmen und potenziellen Begünstigten zu ermöglichen. Der EU-Haushalt sollte auch besser genutzt werden, um private Investitionen durch verschiedene Arten von Finanzinstrumenten und eine größere Risikobereitschaft der Durchführungspartner zu unterstützen. In diesem Zusammenhang wird insbesondere empfohlen, den Umfang der EU-Garantie für das InvestEU-Programm zu erhöhen. Außerdem sollte sich InvestEU auf die Finanzierung von Investitionen mit höherem Risiko und mehr Scale-up-Investitionen konzentrieren. Dieses Ziel erfordere, dass die EIB-Gruppe größere und risikoreichere Projekte übernehme.

Die ab dem Jahre 2028 beginnende Tilgung der zur Finanzierung des Corona-Wiederaufbaufonds NextGenerationEU (NGEU) aufgenommenen Fremdmittel (30 Mrd. Euro jährlich an Tilgungsleistungen) mache schließlich die Einführung neuer Eigenmittel notwendig. Zur Finanzierung von Programmen, die auf Innovation und Produktivitätssteigerung ausgerichtet seien, könnten die Mitgliedstaaten laut Draghi außerdem in Erwägung ziehen, die Rückzahlung der zur Finanzierung von NGEU aufgenommenen Mittel zu verschieben

3. Gemeinsame Schuldtitel

Schließlich schlägt Draghi vor, dass die EU zur regelmäßigen Emission gemeinsamer sicherer Vermögenswerte übergehen sollte, um gemeinsame Investitionsprojekte der Mitgliedstaaten zu ermöglichen und die Integration der Kapitalmärkte zu fördern. Dies setze aber strengere finanzpolitische Regeln voraus, die sicherstellten, dass ein Anstieg der gemeinsamen Verschuldung mit einer nachhaltigeren Entwicklung der Staatsverschuldung (auf mitgliedstaatlicher Ebene) einhergehe. Darüber hinaus müsse die Emission (wie bei NGEU) aufgaben- und projektspezifisch bleiben.

 

II. Ausblick

Bei der Entgegennahme des Berichts betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass dessen Ergebnisse in ihre Arbeit der nächsten Monate und Jahre einfließen werde (und sich damit auch tatsächlich in künftigen Legislativvorschlägen wiederfinden könnten). Ausdrücklich bezog sie sich hierbei auch auf den Aspekt der Mobilisierung privater und öffentlicher Investitionen. Grundlegend neue Aspekte enthält der Bericht in diesem Zusammenhang allerdings nicht. So decken sich z.B. die Vorschläge zur Kapitalmarktunion in wesentlichen Elementen mit den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats zu seiner Tagung vom 17./18.4.2024, wenngleich die mögliche künftige Rolle europäischer Aufsichtsbehörden hier vorsichtiger formuliert wird. Die vorgeschlagene Neustrukturierung des EU-Haushalts geht offenbar in eine Richtung, wie sie gegenwärtig auch von der Generaldirektion Haushalt (BUDG) der Kommission im Hinblick auf den Mitte des kommenden Jahres zu erwartenden Vorschlag für den Mehrjährigen Finanzrahmen ab dem Jahr 2028 angedacht wird (vgl. hierzu auch EU-Wochenbericht Nr. 22-2024 vom 17.06.2024). Die von Draghi vorgeschlagene „Säule der Wettbewerbsfähigkeit“ erinnert sehr an den von Ursula von der Leyen anlässlich ihrer Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament vom 18.7.2024 vorgeschlagenen Europäischen Fonds für Wettbewerbsfähigkeit (vgl. hierzu EU-Wochenbericht Nr. 27-2024 vom 22.07.2024). Völlig offen ist allerdings, wie ein schlagkräftiger EU-Haushalt, der einerseits zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der EU beitragen soll, aber andererseits grundsätzlich ab dem Jahre 2028 die Tilgung der im Zusammenhang mit der Finanzierung von NGEU aufgenommenen Fremdmittel stemmen muss, sichergestellt werden kann. Zum Sach- und Diskussionsstand wird diesbezüglich auf die EU-Wochenberichte Nr. 22-2024 vom 17.06.2024 und Nr. 27-2024 vom 22.07.2024 (hier unter „Europapolitische Grundsatzfragen“) verwiesen. 

Zur vorgeschlagenen regelmäßigen Emission gemeinsamer Vermögenswerte kam u.a. von deutscher Seite bereits die zu erwartende Ablehnung. Nichts destotrotz dürfte sich die Diskussion hiermit noch nicht erledigt haben. Das Thema dürfte weiterhin von Relevanz für die gerade begonnene Legislaturperiode sein. 

 

Weiterführende Informationen:

https://commission.europa.eu/topics/strengthening-european-competitiveness/eu-competitiveness-looking-ahead_en