Der lange Schatten der Guillotine In der Reihe EUROPAerlesen skizzierte der ungarische Autor László F. Földényi Lebensbilder aus dem Paris des 19. Jahrhunderts
In unserer Reihe EUROPAerlesen las der vielfach prämierte ungarische Autor László F. Földényi aus einem jüngst erschienenen Buch „Der lange Schatten der Guillotine“, das in 50 losen Kapiteln und in klarer, eleganter Sprache nicht nur ein Bild vom Paris des 19. Jahrunderts, sondern den Ausgang eines Epochenwandels zeichnet.
Das Bild der Guillotine ist für immer mit der Französischen Revolution Verknüpft. Das Vollstreckungsgerät, das uns martialisch anmutet, wurde seinerzeit als humaner Fortschritt gesehen. Es galt, Schuld immer gleich zu bestrafen und unabhängig vom Rang der Person. Und in Sekundenschnelle. Sie ging einher mit dem Verzicht auf Folter, die 1791 verboten wurde, und dem Verzicht auf langes Spektakel. Der althergebrachte Sachverstand des Henkers war nicht mehr gefragt. Er drückt für die Enthauptung lediglich einen Knopf und muss dem Verurteilten nicht einmal mehr in die Augen sehen. Von hier führt eine gerade Linie zum Abwurf der Hiroshimabombe, die, ebenfalls per Knopfdruck entfesselt, ihre grauenhafte Wirkung bei anonymen Opfern in weiter Entfernung vom Verursacher entfaltete.
László zeigt auf, dass die Guilotinenrevolution auf vielfache Weise auch in andere technische und zivilsatorische Revolutionen eingebettet ist. Das geht von der Verrechtlichung der Politik über die Erfindung der Fotografie bis hin zur völligen urbanen Neugestaltung von Paris und einem Stadtleben, das immer schneller wird. „Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Technik, die das Leben bequemer gestaltet. Gleichzeitig nisten sich Erfindungen in unsere Gedanken ein. Wir leben, wie die Maschine es wünscht.“
Auch das 20. Jahrhundert hatte seine prägenden Revolutionen. Allen voran die fundamentalen Umwälzungen in Mitteleuropa Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Darüber sprachen László F. Földényi und der tschechische Philosoph Václav Němec als Augenzeugen und arbeiteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Revolutionen in der Tschecheslowakei und in Ungarn heraus.
Němec erlebte die Zeit als eine Zeit der Mafia, der Korruption und der Vereinnahmung des taumelnden Staates durch diverse Strömungen und geriet so „in Antikorruptions- und Bürgerrechtsaktivitäten.“ Die Revolution selbst, sagt er unter Verweis auf die Charta 77, und die Oppositionsbewegung basierte auf humanistischen Ideen. Sie hatte kein politisches Programm, sie war bürgerlich und vetrat als „samtene Revolution“ das Ethos der Gewaltlosigkeit. „Gewalt wurde immer von der anderen Seite benutzt.“
Anders in Ungarn. Dort waren die Umwälzungen selber Sache der Eliten, kamen von oben und wurden vom Volk begrüßt oder hingenommen. Geprägt durch jahrhundertelange Erfahrungen der Okkupation und Fremdbestimmung stand und steht bis heute das Moment der Unabhängigkeit stark im Vordergrund, damals von der Sowjetunion, heute etwa von der Europäischen Union. Orbán ist daher das „genetische Produkt der ungarischen Geschichte und in Ungarn beliebt“.
Einig waren sich beide Gäste beim Blick auf die Zukunft. Anders als nach 1990 erhofft, ist diese viel offener und unbestimmter und birgt mitunter gefährliche Zeichen. Europa ist ein gefährdeter Kontinent, der sich politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich beweisen muss. Ist die EU hinreichend vorbereitet auf neue wege, die die USA gehen werden, auf den sich immr erneuernden Nahostkonflikt, auf China?
Über László F. Földényi
Földényi, 1952 im ungarischen Debrecen geboren, ist Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist. Er zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Er ist Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u.a. Friedrich-Gundolf-Preisträger. Seit 2009 ist er Mitglied der der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für sein Werk "Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften" wurde er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet.
Über Václav Němec
Der 1969 in Karlsbad geborene tschechische Philosoph befasst sich schwerpunktmäßig mit der spätantiken und mittelalterlichen Philosophie. Als Gymnasiast in den 1980er Jahren engagierte er sich im Karlsbader Untergrund und knüpfte auch Kontakte zur örtlichen Kirche. Nach dem Abitur war er von 1987 bis 1988 in verschiedenen Kurzzeitjobs tätig (Kulturreferent, Briefträger, Verkäufer) und absolvierte anschließend den Grundwehrdienst (1988-1990). Von 1991 bis 1997 studierte er Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag, anschließend absolvierte er ein Stipendium an der Freien Universität Berlin in Deutschland. Von 1998 bis 2006 promovierte er an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in der Geschichte der Philosophie. Er ist regelmäßiger Gast verschiedener Medien (z. B. Tschechisches Fernsehen, Tschechischer Rundfunk), wo er aktuelle Ereignisse kommentiert. In der Vergangenheit hat er sich an mehreren Bürgerinitiativen beteiligt.
EUROPAerlesen
Die Veranstaltungsreihe Europa Erlesen findet seit 2007 in Zusammenarbeit mit dem Literaturbüro NRW e.V. statt. Hierzu werden regelmäßig Autoren eingeladen, die aus ihren aktuellen Werken, möglichst mit europäischem Bezug, lesen. Anschließend besteht die Möglichkeit zum Austausch und zur Diskussion.
Die Lesung fand in Kooperation mit dem Verein der Deutschen Freunde und Förderer der Olga-Havel-Stiftung statt. Christina Rösch, Vorsitzende des Vereins begrüßte die Gäste und stellte dessen Arbeit vor. Der Verein war, inspiriert von Olga Havlovás gelebter Mitmenschlichkeit und auf ihre persönliche Bitte hin, am 21.05.1992 gegründet worden.
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